Es ist schwer das Glück zu erfassen. Weit weniger schwierig
ist es dagegen, Unglück zu erfahren. „Von drei Seiten droht das Leiden: vom
eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt sogar Schmerz und
Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit
übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und
endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen“ (Freud, 1930).
Subjektiv empfinden wir das Leiden, das aus letztgenannter
Quelle erwächst als die schmerzhafteste Weise. „Niemals sind wir ungeschützter
gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn
wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben“ (Freud, 1930). Es ist unsagbar
schmerzlich, einen geliebten Menschen durch den Tod zu verlieren, noch schmerzhafter
aber ist es, einen lebenden Menschen zu verlieren. Noch dazu, wenn es sich
dabei um den Menschen handelt, für den man sich aufgeopfert hat, für den man
alles gegeben, mit dem man die schönsten Momente erlebt hat und die besten
Erinnerungen teilt.
Die Welt da draußen mag scheiße sein, doch solange deine
eigene heile Welt funktioniert, ist eigentlich alles in Ordnung. Doch was, wenn
diese Welt plötzlich und aus heiterem Himmel zerbricht? Der geliebte Mensch sich wortlos von dir entfernt, ohne dir zu sagen warum, keine Erklärung, kein
letzter Kuss, kein Wort des Bedauerns, keine Verabschiedung – einfach so.
Dieser Mensch besaß nicht einmal mehr den Anstand, dir ein letztes Mal in die
Augen zu sehen...
Und da fragen sich manche Menschen noch, warum man zum
Misanthropen wird. Wieder und wieder durchlief ich die ersten vier Phasen der
Trauer (Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression). Stets geplagt von der verdammten
Frage nach dem Warum.
Diese Depression erreicht ihren Tiefpunkt in der Erkenntnis,
dass sich der (ehemals) geliebte Mensch nicht nur darüber im Klaren ist, dass
es einem furchtbar dreckig geht, er ist auch der Grund dafür und es kümmert ihn
nicht im Mindesten. Nicht mehr. Spätestens da möchte man sich die Seele aus dem
Leib kotzen...
Bald darauf fand ich mich in einem Flugzeug wieder. Da hatte
jemand die grandiose Idee, mich zu einer Reise zu überreden, frei nach dem
Motto: Wenn du nur weit genug verreist, werden dich deine Sorgen schon nicht
finden.
Die Erinnerungen hatten sich jedoch mit an Bord geschlichen.
Der Gedanke an den Verlust kam unausweichlich und mit ihm dieses ungute, leere Gefühl
in der Magengegend und diese Stiche in der Brust. Nach der Landung konnte ich
die schmerzlichen Erinnerungen jedoch vorerst beiseite schieben. Tagsüber war gar kein Platz mehr für
sie. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die Sonne, die Aktivitäten, kurzum
das Hier und Jetzt zu genießen.
Nur abends im Bett, da waren sie wieder präsent, diese
schmerzhaften Erinnerungen. Zum Glück fielen mir alsbald vor Müdigkeit die Augen zu und der
Mantel der Nacht legte sich wie ein Pflaster über die Wunde.
Es gelang mir immer besser, die unliebsamen Gedanken zu
verdrängen. Verarbeitet hatte ich den Verlust aber noch immer nicht. Eine
Begegnung im Supermarkt sollte den Wendepunkt markieren. Mehr zufällig
erblickte ich eine hübsche Frau. Obwohl ich mich gerade in einem Gespräch
befand, konnte ich meine Augen nicht von ihr abwenden, als sie an mir
vorbeilief. Sie erinnerte mich an meine Ex. Wir liefen uns noch einmal zwischen
den Regalen über den Weg, ehe wir uns schließlich an der Kasse zum dritten Mal
begegneten. Unsere Augen trafen sich. Sie lächelte mich an. Ich lächelte
zurück. Dann griff sie sich ihre Einkaufstüten und verschwand. In dieser Nacht
dachte ich zum ersten Mal nicht mehr an meine Verflossene...
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg, einen
Berggipfel zu erklimmen. Nach einem langen und anstrengenden Marsch, erfreuten
wir uns eines schier unbeschreiblichen 360-Grad-Panoramas. Auf einem Felsen
sitzend, genoss ich die atemberaubende Aussicht. Vor meinem geistigen Auge ließ
ich die Erlebnisse der letzten Tage Revue passieren... aber dann... Da waren
sie wieder, diese unliebsamen Gedanken. Doch ich ertappte mich dabei, wie ich
noch immer lächelte. Ich erinnerte mich an die Person, die mich durch die Hölle
geschickt hat und ich lächelte einfach weiter...
„Das hier, das ist so viel besser, so viel realer, so viel
lebendiger als meine kranke Liebe, zu dieser Gestörten! Das hier fühlt sich
verdammt gut an“, dachte ich. – Plötzlich tat es nicht mehr weh. Mein Lächeln
wurde zu einem breiten Grinsen. Endlich, die finale Phase: Akzeptanz.
In meinem Kopf wurde meine persönliche Wiedergeburt von Kid
Kopphausens „Das Leichteste der Welt“ begleitet:
Ich gebe den Dingen einen Namen
[...]
[...]
Ich will mich wieder wundern, will erstaunt sein
Will wie der allererste Mensch
Mit neuen Augen zwischen den Dingen stehen
Und nichts wiedererkennen
Die Schritte setzen durch Wälder und Wiesen
Und sagen: Ja es ist gut – ist gar nicht so schlecht
[...]“
Und auch wenn ich mit der Religion auf Kriegsfuß stehe, so
finde ich doch Gefallen daran, dass ich ausgerechnet heute die Zeit gefunden
habe, die therapeutische Wirkung meiner Reise in Worte zu fassen.
Treffenderweise fühle ich mich auch wie Jesus am Ostersonntag.
In diesem Sinne, frohe Ostern!
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